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DH-Call 2023: Abschluss der Forschungsarbeit in der Deutschen Nationalbibliothek

Im Jahr 2023 wurde der DH-Call der Deutschen Nationalbibliothek zum vierten Mal ausgeschrieben. Die Jury wählte mein Forschungsprojekt als eines von vier als förderungswürdig befundenen Projekten aus. Dies eröffnete die einzigartige Möglichkeit, mit den Ressourcen der Deutschen Nationalbibliothek zu arbeiten. Durch die jährliche Ausschreibung des DH-Calls soll Wissenschaftler:innen die Möglichkeit gegeben werden, insbesondere mit urheberrechtlich geschützten Beständen zu arbeiten, um diese primär digital auswerten zu können. Für das Jahr 2023 wurden folgende Projekte bewilligt:

  • Dominik Dungel (Universität Leipzig): Fragen zu Stilbildung und Instrumentalisierung von Kirchenmusik in den 1920er und -30er Jahren aus wissenssoziologischer Perspektive.
  • Berenike Herrmann und Daniel Kababgi (beide Universität Bielefeld): descSpace – Untersuchung des diachronen Wandels von Ort- und Raumbeschreibungen in der Prosa-Literatur von 1800 bis heute.
  • Elena Mayer (Universität Leipzig): Konflikte in der autonomen Frauenbewegung.
  • Jana-Katharina Mende (Universität Halle): Code-Switching codieren: Mehrsprachige Literatur digital annotieren und analysieren (1820–1920).

In meinem Dissertationsprojekt beschäftige ich mich intensiv mit Fragen (kirchen-)musikalischer Stilbildung zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, die exemplarisch an der sogenannten „Leipziger Schule“ dargestellt werden. Ein besonderer Schwerpunkt liegt in der erarbeiteten Methodologie, die das Thema zur Darstellung bringt. Das Promotiosprojekt ist insofern also nicht nur eine musikhistorische Auseinandersetzung mit spezifischen musikalischen Phänomenen, sondern auch eine methodische Reflexion, um am Quellenmaterial neue Erkentnisinteressen zu diskutieren und weiterführende sowie valide Aussagen treffen zu können. Entgegen der heute vieldiskutierten ‚Methodenkritik‘, ist ‚Methode‘ ein immanenter Teil von ‚Wissenschaft‘. Neue Erkenntnisintressen öffnen durch tiefgehende methodologische Überlegungen und die daraus konkret abgeleiteten methodischen Handlungsweise neue Erkenntnisräume. Besondere Perspektiven ergeben sich nach meiner Auffassung in der Verbindung von Musikwissenschaft und Wissenssoziologie.

Musikwissenschaft und Wissenssoziologie

Die Wissenssoziologie macht es sich primär zur Aufgabe, der Genese und Tradierung von Alltagswissen in der Gesellschaft nachzuspüren. Der von mir verfolgte Forschungsansatz hingegen konzentriert sich auf die Verschränkung der Sphäre von ‚Alltags- und Fachwissen‘. Dabei ist dabei das Paradigma konstituierend, dass ein solches Wissen durch diskursive Aushandlungsprozesse, das bedeutet durch die Zirkulation und Verwendungsweise von Sprache, geprägt wird und sich in konkretem ‚Handeln‘ ausdrückt. Diese Performativität spiegelt sich aber auch in der Wechselbeziehung von Subjekt und Gesellschaft wider.

Eine historische Wissenssoziologie berücksichtigt dabei besonders das Moment der ‚Deutung‘ von Lebenswelten. Damit ist die psychologische Einsicht gemeint, dass der Mensch in seinem Wesen nicht ‚rational‘, sondern ein ‚rationalisierend‘ agiert. Geschichte wird deshalb durch Individuen und Gruppen bis zu einem gewissen Grad immer ‚gedeutet‘ und damit auch ‚konstruiert‘. Die historische Wissensoziologie hinterfragt deshalb das ‚Selbstverständliche‘ – den ‚Common-Sense‘ und möchte infolgedessen auch das Wirken der zugrundeliegenden ‚Macht-Wissens-Komplexe‘ sichtbar und nachvollziehbar machen.

Ein zentrales Anliegen meiner Dissertation ist es nun, die Positionierung zeitgenössischer Akteure innerhalb des untersuchten Diskursfeldes zu beleuchten. Eine solche Perspektive erlaubt es, die Pluralität der Bedeutungen und die ‚ideologischen‘ Kontexte zu analysieren. Besonders auffallend waren hier Parallelen zwischen den Lebenswelten von Leipziger Akteuren in Bezug auf die Wissensvorräte der entsprechenden kirchenmusikalischen Teilöffentlichkeit. Eindeutige ‚ideologische‘ Zusammenhänge mit dem Nationalsozialismus und völkischer Weltanschauung ergaben sich beispielsweise bei dem Komponisten Hermann Grabner (1886 – 1969) oder dem Musiktheoretiker Paul Schenk (1899 – 1977). Grabner etwa profitierte von der Förderung durch die nationalsozialistische Kulturpolitik. Neben den Selbstbekenntnissen zum Nationalsozialismus, vertrat Schenk in privater Korrespondenz sowie in seinen Lehrwerken völkisches Denken und gleichermaßen ausgerichtete musikpädagogische Konzepte.

Zur lückenlosen Erschließung des Korpus und Ergänzung des bereits erschlossenen Quellenmaterials stand die explorative und korrektive Anwendung von Python und R im Vordergrund, die zur Themensuche und -analyse Wesentliches beitragen konnten. Dieses Vorgehen begründete sich primär aus dem qualitativen Forschungsschwerpunkt der Arbeit. So ermöglichte es die computergestützte Auswertung, große Datenmengen effizient und schnell zu verarbeiten. Alle relevanten Quellen wurden auf diese Weise identifiziert, manuell validiert und herausgearbeitet. Die über 800 aufgefundenen Diskursfragmente wurden systematisiert und in eindeutige thematische Cluster geordnet. Damit war eine Erfassung der zentralen diskursiven Strukturen möglich. Diese Digital Musicology war im Arbeitsprozeß also weniger technische Unterstützung, als vielmehr integraler Bestandteil der methodologischen Überlegungen.

Das Dissertationsprojekt wird voraussichtlich im Verlauf des Jahres 2025 abgeschlossen werden.