Forschungsprogramm ›Musikwissenschaftliche Deutungsmusteranalyse‹

Traditionelle und modernere musikwissenschaftliche oder -theoretische Ansätze, die sich bei einer Beschäftigung mit dem Phänomen ›Musik‹ auf die Autonomie des Werkes oder seine bloße Spiegelfunktion gesellschaftlicher Verhältnisse berufen, greifen zu kurz. Die praktischen Konsequenzen der Dichotomien ›Werk versus Kontext‹, ›Form versus Inhalt‹ oder ›Subjektivität versus Objektivität‹ vernachlässigen häufig den zwischen ihnen bestehenden Konnex. So vergisst der Fokus auf die werkimmanente ›innere‹ Struktur (z. B. Noten, Formen, Harmonien etc.) oder seine ›äußere Situiertheit‹ (z. B. historischer Kontext, gesellschaftlich, konkret ereignisbezogen etc.) den bestehenden untrennbaren Zusammenhang zwischen diesen Dimensionen. In ähnlicher Weise führt die Annahme, dass ›Form‹ und ›Inhalt‹ in Analysen zu separieren seien – Werke also möglicherweise grundsätzlich unabhängige Inhalte transportieren – zu reduktionistischen Interpretationen, die die spezifische Formung musikalischen ›Wissens‹ verkennen. Auch die Vorstellung, dass musikalische Analyse ›subjektiv‹, etwa nach ästhetischem Empfinden, oder ›objektiv‹ – als rationalisierendes Vehikel dienen nicht selten mathematische Systematisierungsversuche oder neuere rekursive Theoriebildungen – auszurichten seien, blendet die konstitutive Rolle und Funktion kulturell geprägter Deutungsmuster aus.

Das von mir vorgeschlagene Forschungsprogramm der »Musikwissenschaftlichen Deutungsmusteranalyse (MDA)« ist deshalb ein Plädoyer für eine transdiskursive Wende. Die MDA betont die Bedeutung der Interdisziplinarität, fordert eine neue Perspektive auf die Trennung von geistes- und naturwissenschaftlichen Paradigmen, wie sie sich beispielsweise zwischen musikhistorischer und -systematischer Forschung abbilden, und will außerdem für eine stärkere reflexive Haltung der Forschenden eintreten.

Die MDA versteht Musik weder als ›diskursive‹, noch als ›nicht-diskursive‹, sondern als ›transdiskursive‹ Praxis. Musik manifestiert sich nicht nur in Form sprachlicher oder zeichenbasierter Handlungen – wie in musikwissenschaftlichen oder -theoretischen Abhandlungen, Aufsätzen, Artikeln, Konzertberichten und der Partitur, in geführten Diskussionen oder Debatten – sondern auch in diskursstützenden und -modifizierenden Handlungsweisen, so etwa in Konzerten, (kirchlichen) Ritualen oder öffentlichen Demonstrationen. Es ergibt sich also eine eigene Form der Wissensordnung und -politik, die sich nicht vollständig in Sprache übersetzen lässt. So stiftet beispielsweise ein Liebeslied oder ein instrumentales Stück, das von Individuen oder Kollektiven als ein solches ›Liebeslied‹ charakterisiert wird, auch unabhängig von einer Interpretationsweise, eine gemeinsame Erfahrung – ein geteiltes ›Wissen‹ über ›Liebe‹ – die über individuelle Empfindungen hinausgeht.

Musik kann aber insofern als gesellschaftliche Wissenspraxis verstanden werden, ›in der‹ und ›durch die‹ soziale Deutungsmuster – und dementsprechend ›Deutungswissen‹ über Musik – konstituiert, reproduziert und transfomiert werden; in ihrer eigenen symbolischen Form kommen in der Musik gesellschaftliche Wissensordnungen nicht nur zum Ausdruck, sondern werden auch verhandelt. Festzuhalten bleibt:

– Musikalische Werke und Praktiken sind Teil diskursiver und nicht-diskursiver Formationen, in denen gesellschaftliches Wissen (re-)produziert wird.
– Musik fungiert als Medium, in dem soziale Deutungsmuster kodiert, vermittelt und angeeignet werden.
– Musikalische Deutungsmuster erfüllen ähnliche Funktionen wie andere soziale Deutungsmuster, wie sie beispielsweise schon seit Jahren Gegenstand in Wissenssoziologie und Diskursforschung sind.
– Die MDA unterstreicht die Transdiskursivität von Musik. Dies betrifft a) die Unabhängigkeit von Sprache im Sinne der nicht vollständigen ›Übersetzbarkeit‹ von Musik in Sprache oder Mathematik, b) die Grenzüberschreitung von Musik als Phänomen, das weder diskursiv noch nicht-diskursiv ist, c) daran anlehnend, die plurale Form der Wissensproduktion und d) diskursive Effekte, die sich an der Änderung bestehender Diskursformationen ablesen lassen. Entsprechend können sich potenzielle Untersuchungsgegenstände an Fragen von emotionaler Wirkung, sozialer Identität, politischer Mobilisierung, ritueller Funktion und an konkrete musikalische Symbolsysteme und deren diskursive Archivierung ausrichten. Durch die Berücksichtigung einer materiellen Perspektive, wie sie in der Diskurs- und Dispositivforschung verankert ist, bietet die Musikwissenschaftliche Deutungsmusteranalyse einen vielversprechenden Brückenschlag zwischen kollektiver und subjektiver Handlungsebene.

Nach oben scrollen